Lupusverlach

Noch eine Seite die keiner braucht

Weihnachten anno 1947

von | 18 Mai, 2019

Bei Aufräumarbeiten in einen kürzlich gekauften Haus ist dieser Brief aufgetaucht.


Lieber Helmut!

Wieder einmal steht Weihnachten vor der Tür. Ich will Dir einmal erzählen, wie es mir vor genau 49 Jahren um die gleiche Zeit ergangen ist:

Damals war ich im Lager Mitau1. Unsere Brigade war zum Arbeitseinsatz in der nahe gelegenen Zuckerfabrik eingeteilt. Bei diesen Kommando, konnte man wenn man Glück hatte und im Fabrikgebäude zum Arbeiten eingeteilt war, schon einmal eine Handvoll Zucker abstauben. Nur, die meisten von uns waren nicht im Gebäude selbst, sondern im Fabrikgelände beschäftigt. Dabei konnten wir höchstens Zuckerrüben im Feuer braten. Die Posten haben aber höllisch aufgepasst und es war dabei das große Problem sein Feuer an zumachen. Gebraten kann man wenn man Hunger hat, und den hatten wir ja ständig, die Rüben, zur Not verzehren.

Nun nach langer Zeit, hatte ich wieder einmal das Glück, in der Fabrik selbst eingeteilt zu werden. Ein Mitgefangener hat mir unauffällig einen Stoffbeutel zu gesteckt und gesagt: versuche doch mir etwas Zucker beim Fenster raus zuwerfen. Am besagten Tag sollte ich im Zuckerlager aufpassen, dass die 2 Zentnersäcke vom Förderband ordentlich und gerade über eine anschließende Rutsche, ins Lager zum Stapeln befördert wurden. Dabei ging manchmal mit etwas Nachhilfe beim Aufprall, auch schon ein Sack kaputt. Der Lagerverwalter, ein Zivilist hat ausgesehen wie Stalin, hat dann ein Mordstheater gemacht, aber was sollte er machen, in dem Durcheinander das dabei entstand habe ich schnell, mein Kochgeschirr mit den Förderband zurückgeschickt. Die Kameraden haben es gefüllt retourtransportiert. Ich sollte doch für den Kameraden etwas Stoff zum Fenster raus werfen. Es war kein eigentlicher Freund. Aber wenn es in der Gefangenschaft darum ging für einen Leidensgenossen etwas zu organisieren, so war das Ehrensache.

Ich hatte den Beutel noch nicht genug voll gemacht, das muss der verdammte Lagerverwalter etwas geahnt haben. Er kam die Treppe raufgesprungen, ich konnte noch schnell den Zucker unter das dunkle Förderband werfen, doch er hat das Corpus Delicti trotzdem gefunden. Für den Mann stand jedenfalls fest, dass er einen Gefangenen beim Klauen überführt hat. Der Beutel wurde mir um die Ohren gehauen. Posten mussten mich zurück ins Lager schaffen. Dann musste ich meine Hosenträger und die Schnürsenkel abgeben- ab in den Karzer 2, das war ein aufgebockter Viehwaggon.

Da saß ich nun, ein paar Tage vor Weihnachten. Zuerst war ich allein. Am nächsten Tag habe ich Gesellschaft bekommen. Ein Ungarischer Offizier. Er war angeblich ein Verwandter vom Reichsverweser3 Horthy 4. Er hat mir erzählt; als Offizier bräuchte er nicht arbeiten, daraufhin haben ihn die Russen immer wieder eingesperrt. Ein paar Tage später kamen noch zwei entflohenen Plennys5 aus Estland zu uns.

Dass man Geflüchtete nicht umgebracht hat, grenzte an ein Wunder. Sonst wurden Geflüchtete regelmäßig bei Wiederergreifung kurzerhand erschossen oder totgeschlagen. Zur Abschreckung hat man sie dann vor das Lagertor geworfen.

Weihnachten stand kurz bevor. Der U. Offizier und auch die beiden anderen Einsitzer waren inzwischen fort. Ich war allein. Der deutsche Kalfaktor 6, angeblich waren es Antifaschisten, aber wohl mehr Kochgeschirraspiranten, waren für den Karzer zuständig. Beim Essen holen ließ er mich kurz in meine Baracke zu dem Kameraden. Dort wurden schon Vorbereitungen zum bevorstehenden Fest getroffen.

Am nächsten Tag musste ich zum Politoffizier kommen. Er hat
gefragt, warum ich ein gesperrt bin. Nun ich habe mich dumm gestellt, dass wüsste ich selbst nicht. Angeblich soll ich Zucker genommen haben. Da hat der Russe über seine Dolmetscherin erklärt; wer in Russland klaut, der kommt nach Sibirien 20 Jahre und noch länger. Wer die dortigen Verhältnisse kennt, der weiß dass das System nur vom Organisieren bestehen kann. Durch reguläre Arbeit kann dort Niemand existieren.

Damals war die Zeit der willkürlichen Verurteilten. Um die
Gefangenen länger behalten zu können, wurden für Kleinigkeiten langjährige Strafen in Straflagern verhängt. Mein Glück war wohl dass ich der beschuldigten Tat nicht überführt war Glück im Unglück. Das hätte bös ausgehen können. Nun ohne etwas Glück hat die Zeit in russischen Lagern sowieso Niemand überlebt

Nun will ich erzählen wie es weiter ging:

Nächster Tag war Heiligabend. Jetzt wurde mir schon langsam Angst. Selbst als russischer Kriegsgefangener, wenn man unter Kameraden war, so war unser Los doch einigermaßen erträglich. Besonders in den Jahren 1947-1948 wurde es doch allmählich besser. In dieser Zeit bekamen wir für unsere Arbeit manchmal, wenn wir Glück hatten (man musste in der Gefangenschaft nur Glück haben) ein paar Rubel ausbezahlt. Dafür konnten wir uns dann ein Brot, oder wenn es reichte 100 Gramm Butter kaufen. Für damalige Verhältnisse schon etwas Besonderes.

Im Lager kam langsam dem Abend heran und ich saß allein.
Meine Barackenkameraden (mit einen bin ich heute noch immer in Verbindung) haben mir von ihren Wenigen dass sie selbst hatten durch das vergitterte Fenster gesteckt.

Den Heiligen Abend im Knast verbringen? Beim Essen holen min besagten Kalfaktor, habe ich gedacht, man sollte es zumindest versuchen raus zukommen. Es sei heute Weihnachten. Auch wenn die Russen später als wir Väterchen Frost feiern, so waren sie in dieser Zeit umgänglicher als sonst. Der zuständige Politoffizier hat tatsächlich gesagt, ich könnte zu meinen Kameraden gehen. Es wäre ja Weihnächten.

Lieber Helmut! Kannst Du Dir vorstellen wie froh ich war?
Als ich in meine Baracke kam war die Freude natürlich groß. Wir haben dann zusammen bescheiden Heiligen Abend gefeiert.

Wenn es uns heute auch wieder gut geht, diesen Heiligen Abend werde ich bestimmt nicht vergessen. Ach so- die Sache hatte ja noch ein Nachspiel. Nach meiner Entlassung aus dem Knast ging ich mit meiner Brigade wieder zur alten Arbeitsstelle Zuckerfabrik. Ich hatte mir im Magazin ein Brot gekauft. Habe es stolz unter dem Arm beim Einmarsch durch das Lagertor getragen. Da muss mich der russische Lagerkommandant wieder erkannt haben. Am nächsten Tag hieß mein Arbeitsplatz „Ziegelei“

So erging es mir Weihnachten 1947.

Fußnote

  1. Jelgava (zu deutsch Mitau) in dieser Lettischen Stadt hatte Rote Armee das Kriegsgefangenenlager 266 eingerichtet.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Jelgava
  2. Der (bis ins 19. Jahrhundert auch das) Karzer (lat. carcer‚ Umfriedung, Kerker) war bis ins frühe 20. Jahrhundert eine Arrestzelle in Universitäten und Schulen. Der Begriff wurde auch für Arrestzellen in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern verwendet. https://de.wikipedia.org/wiki/Karzer
  3. Ein Reichsverweser nimmt die Vertretung des Monarchen während einer Thronvakanz wahr, also bei längerer Abwesenheit des Königs oder in der Zeit zwischen dessen Tod
    und der Thronbesteigung seines Nachfolgers. Der Begriff Verweser kommt von althochdeutsch firwesan und bedeutet „jemandes Stelle vertreten“.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsverweser
  4. Miklós Horthy, deutsch Ritter Nikolaus Horthy von Nagybánya war ein österreichisch-ungarischer Admiral, ungarischer Politiker und als Reichsverweser langjähriges Staatsoberhaupt des Königreiches Ungarn (1920–1944).
    https://de.wikipedia.org/wiki/Miklós_Horthy
  5. „Plennys“, wurden die Gefangenen nach dem russischen Wort Woennoplennyj für Kriegsgefangener genannt.
    http://www.kriegsreisende.de/relikte/plenny.htm
  6. Ein Kalfaktor ist eine Hilfskraft oder ein Bediensteter, der einfache Arbeiten verrichtet.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Kalfaktor